Vor #COP30. War irgendwas mit Klima?

Vor #COP30. War irgendwas mit Klima?

Wenn sich die Welt nun Anfang November in Brasilien zur Klimakonferenz trifft, wird mancher sich die Augen reiben: Klima? War da irgendwas? Gibts nicht Wichtigeres?

Nein, es gibt nichts Wichtigeres. Weshalb viele auch im privaten Kreis darüber sprechen und sich überlegen, wie sie sich persönlich verhalten können, um ihre privaten CO2-Emissionen zu reduzieren.

Aber: „Woher bekomme ich verlässliche Informationen?“ fragt man mich nicht selten. Nun, man bekommt sie von unseren großen in Deutschland beheimateten und international hoch geschätzten und anerkannten Forschungseinrichtungen, die sich mit den Ursachen des Klimawandels und mit den Folgen des Klimawandels beschäftigen. Allen voran PIK Potsdam.

Um sich einen schnellen und verlässlichen Überblick über den status quo kurz vor COP 30 zu verschaffen, seien nun drei Dokumente zitiert, die die wesentlichen Punkte gut zusammenfassen (link zum Dokument jeweils grün gekennzeichnet):

Eine gemeinsame Erklärung des Deutschen Gesellschaft für Meteorologie und der Deutschen Physikalischen Gesellschaft, die auf das zunehmende Tempo der Klimaveränderungen hinweist und die Politik zu wirklich entschiedenem Handeln auffordert:
Das gemäßigte Klima der letzten 10 Jahrtausende hat die Voraussetzungen für die Entwicklung menschlicher Zivilisationen geschaffen. Die gegenwärtige Generation junger Menschen muss sich der Tatsache bewusst sein, dass sie möglicherweise das Ende dieser gemäßigten Umweltbedingungen mit all ihren Konsequenzen erleben wird.
Zentrale Botschaft: Die 3-Grad-Grenze wird möglicherweise nicht erst zum Ende des Jahrhunderts, sondern bereits um 2050 überschritten.“

Zweitens der Bericht des PIK Potsdam über die Belastbarkeitsgrenzen der Welt.
Zentrale Botschaft: sieben von neun Belastungsgrenzen sind bereits überschritten.

Und drittens sei hier ein Text von Professor Dr. Stefan Rahmstorf eingefügt, der auf sehr anschauliche Weise darlegt, „was los ist“. Prof. Rahmstorf hat auf wenigen Seiten aufgeschrieben, was eigentlich „plus 3 Grad mehr“ bedeuten. Für mich der vielleicht wichtigste Satz gegen Ende des Aufsatzes: „Meine Kinder, die jetzt ihr Abitur ablegen, werden wahrscheinlich eine solche Welt erleben. Diese Welt ist völlig außerhalb aller bisherigen menschlichen Erfahrungen. Solange die Menschheit existiert, hat es solche Bedingungen nicht gegeben.“

Menschenwürdig sterben. Das Hospiz in Stendal/Altmark

Menschenwürdig sterben. Das Hospiz in Stendal/Altmark

Ulrich Paulsen hatte gerufen und alle waren sie gekommen.

Der Ministerpräsident, die Sozialministerin, der Landrat, der Oberbürgermeister, der MDR, die Zeitung, die Sparkasse, die Regionalbischöfin, der Superintendent und viele viele Stendaler. Oben in der Bergstraße, die zu Ost-Zeiten auch mal Wilhelm-Pieck-Straße hieß, an der Ecke zur Mannstraße steht nun der Neubau vom Hospiz Stendal.

Meine Frau und ich waren extra aus Berlin angereist, weil wir im Vorgängerhaus des schönen Neubaus unsere Kindheit bzw. Schulzeit verbracht haben. Stendal ist uns vertraut und uns hat natürlich interessiert, wie es nach dem Abriss des alten Gemeindehauses, in dem wir gelebt haben, weitergehen würde.

Nun wissen wir es, denn der Neubau für das Hospiz in Stendal wurde gestern, am 15.8.2024 offiziell eröffnet, MDR und Volksstimme werden sicher darüber berichten. Es ist schön geworden, es ist gut geworden und eines gefällt mir besonders: dieses Projekt wurde und wird von mehr als 120 Haupt- und vor allem Ehrenamtlichen in der ganzen Altmark getragen, deshalb zeigt das Titelfoto für diesen kleinen Beitrag auch einen Teil der Ehrenamtlichen, die sich sowohl mobil (also bei den kranken Menschen zu Hause) als auch stationär (also z.B. im Neubau in der Bergstraße in Stendal) in der gesamten Altmark um die sterbenskranken Menschen kümmern.

Viele Reden wurden gehalten, viel wurde geklatscht. Wir haben gesungen miteinander, Auszeichnungen wurden verliehen. All so etwas gehört zur Routine einer Bau-Eröffnung.

Wenn man jedoch den Applaus des Publikums einmal zum Maßstab für öffentliche Anerkennung nimmt, dann hatten die Ehrenamtlichen ganz klar den Hauptgewinn des gestrigen Tages.

Das Haus ist gut geworden. Für 10 Gäste ist sehr guter Platz. Die Zimmer sind hell und geräumig, die BetreuerInnen haben guten Raum für ihre Arbeit. Die größeren Gemeinschaftsräume sind durch verschiebbare Wände vielfach nutzbar. Ein sehr guter Ort. Und wenn die Außenanlagen im Herbst, wenn wieder gepflanzt werden kann, angelegt werden, dann wird die Sache „rund“. Hier kann man am Ende des Lebens wirklich „ankommen“. Hier kann man Heimat finden. Ein guter Ort, um in Würde den Lebensweg zu beenden. Hier ist man in wirklich guten Händen. Die MitarbeiterInnen sind bestens ausgebildet, sie werden ständig weitergebildet, hier arbeiten Profis, man merkt es sofort, wenn man mit ihnen spricht.

In nur anderthalb Jahren wurde der Neubau realisiert, die Baugeschichte ist auf der Homepage vom Hospiz Stendal erzählt. Ca. 5 Millionen Euro hat die Sache gekostet, etliches davon kam aus öffentlichen Geldern, aber auch sehr sehr viel aus Eigenmitteln der Diakonie und vor allem aus Spenden. Das Projekt ist fast ausfinanziert, es fehlen noch ca. 30.000 Euro, wie mir Pastor Ulrich Paulsen gestern anvertraute.

Deshalb schicke ich hier nochmals die Kontoverbindung, für alle die Menschen, die das Hospiz in Stendal unterstützen möchten:

Hospiz Stendal Kreditinstitut: Kreissparkasse Stendal
IBAN: DE96 8105 0555 3010 0231 02
BIC: NOLADE21SDL

His name is James. James Hansen

Prof. Dr. James Hansen, Klimaforscher. Geboren 1941. Ehemals bei der NASA, Direktor des Goddard Institute for Space Studies. Früher Entwickler und Nutzer von numerischen Klimamodellen. Weltberühmt ist Hansen seit seiner Rede vor dem Energy and Natural Resources Committee des amerikanischen Senates am 23. Juni 1988, in der er eindringlich vor den Gefahren des Klimawandels warnte.
Weltberühmt? Fragen Sie doch mal Ihren Nachbarn, ob er James Hansen kennt!

Hansen ist unbequem. Er sagt, die Modelle und Berechnungen des IPCC seien zu vorsichtig, die Realität sei viel härter, als bislang angenommen. Er sagt, man müsse den Menschen die naturwissenschaftliche Erkenntnis zutrauen und nicht durch Konjunktive verharmlosen. Man solle nicht sagen: „weiter steigende Emissionen „könnten“ den Klimawandel beschleunigen“ sondern man müsse sagen: „sie werden ihn beschleunigen.“

Hansen ist ein Kämpfer. Ronald Reagan hatte ihm dereinst die Forschungsgelder um die Hälfte gekürzt, seine Ergebnisse „passten dem Präsidenten nicht“ – Hansen machte weiter. George Bush kam mit Hansen auch nicht klar – Hansens Forderungen „passten nicht in die Zeit“. Kriege waren wichtiger.

Man hat ihn immer wieder von Seiten „interessierter Kreise“ angegriffen, er sei ein „Panikmacher“ – Hansen ließ sich nicht beirren: „Zahlen lügen nicht“.

Immer wieder zeigte sich: was Hansen vorhergesehen hatte, trat ein:
Vergleicht man seine damaligen Beschreibungen mit den heutigen Beobachtungen, so lässt sich Folgendes festhalten: Hansen prognostizierte, dass sich die globalen Durchschnittstemperaturen in den 1990er Jahren so stark erhöht haben, dass sie sich klar vom natürlichen Rauschen der Messdaten abheben würden. Tatsächlich war im zweiten Sachstandsbericht des IPCC von 1995 erstmals zu lesen, dass es deutliche Hinweise darauf gibt, dass der Mensch das Klima der Erde beeinflusst (…discernable human influence on climate).
Mittlerweile hat Prof. Klaus Hasselmann den menschlichen Einfluss auf den Klimawandel sogar beweisen können, wofür er 2021 den Nobelpreis für Physik bekam.
Hansen erwartete im Zeitraum von 1980 bis 2010 eine Erwärmung zwischen 0,28 und 0,45 Grad, was etwas unterhalb der beobachteten Erwärmung von 0,48 Grad liegt. Er erwartete, dass sich in Regionen in Nordamerika und Asien ausgeprägte Dürren zeigen würden. In Kalifornien war von 2011 bis 2017 tatsächlich eine auch im Vergleich zur vorangegangenen Dürreperiode extreme Dürre zu beobachten. Außerdem erwartete er einen fortschreitenden Zerfall des westantarktischen Eisschildes. Tatsächlich wurde in den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts ein schneller Zerfall des Larsen-Schelfeises und anderer Eismassen beobachtet. Die von ihm ebenfalls erwartete Öffnung der Nordwestpassage trat ebenfalls ein, und zwar erstmals im Jahr 2007. 
2008 veröffentlichte Hansen eine Studie, die besagt, dass der Gehalt von Kohlenstoffdioxid in der Erdatmosphäre einen Wert von 350 parts per million (ppm) nicht dauerhaft überschreiten dürfe, wenn das 2-Grad-Ziel noch erreicht und ein Kippen des globalen Klimasystems mit potentiell irreversiblen Folgen verhindert werden solle. Daher müsse der Wert von damals bereits ca. 385 ppm durch „negative Emissionen“ auf 350 ppm reduziert werden. 
Mit Stand 2024 liegt der Wert bei ca. 420 ppm.

Jahr für Jahr zeigt sich immer klarer: der Klimawandel geht sehr viel schneller vonstatten, als die Wissenschaft bislang angenommen hatte, die Modelle des IPCC waren zu vorsichtig. Die gemessene Realität übertrifft die Prognosen bei Weitem. Hansen lag richtig.

Ich lese die wichtigsten Arbeiten von James Hansen seit dem Ende der achtziger Jahre, seit seiner Rede vor dem amerikanischen Senat.
Für mich ist James Hansen eine moderne Kassandra, ein Seher, der auf Grund seiner Daten und Modelle Erkenntnisse gewinnt, vor denen die Mehrheit der Menschheit die Augen verschließen möchte. Er ist ein ungehörter Rufer.

„Wir werden, wenn wir so weitermachen, zum Ende des Jahrhunderts nicht bei plus 2 Grad, sondern bei plus 4 Grad herauskommen“ sagt er. „Das bedeutet aber den Zusammenbruch der Landwirtschaft, weil die Klimaerwärmung über Land bei plus 6 bis plus 8 Grad liegen wird.“ Klimaforscher wie Mojib Latif vom GEOMAR Forschungszentrum in Kiel bestätigen ihn: „wir landen bei mindestens plus 3 Grad“ sagt auch er.
Prof. Hans-Joachim Schellnhuber vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) sieht das ebenso und fügt hinzu: „bei plus 3 Grad werden große Teile des Planeten unbewohnbar sein, weil die Temperaturen über Land noch deutlich höher sein werden“.

Man kann das alles nachlesen. Es ist alles seit Jahren bekannt.
Der alte James Hansen kämpft inzwischen gemeinsam mit seiner Enkelin Sophie – denn um die Welt, in der sie wird leben müssen, geht es ihm. Hansen geht es um Generationengerechtigkeit.
Er kämpft inzwischen gemeinsam mit der Generation seiner Enkelin auch vor höchsten Gerichten darum, daß den Kindern Klimagerechtigkeit widerfährt und die jetzt Regierenden ihrer Verantwortung endlich gerecht werden.
»Er war seiner Zeit bemerkenswert voraus und prognostizierte die Erderwärmung, die wir drei Jahrzehnte später tatsächlich so gemessen haben«, sagt der renommierte US-Klimaforscher Michael E. Mann über ihn.

James Hansen ist umstritten. Auch ich teile nicht alle seiner Ansichten. Ich kann verstehen, dass er angesichts der schier aussichtslosen Lage in Bezug auf das Weltklima vor 10 Jahren der beinahe verzweifelten Ansicht war, man könne nicht ohne Atomkraft das Weltklima stabilisieren, teile seine Ansicht allerdings nicht. Denn wir können keine Garantien für 1 Million Jahre abgeben. Diese Garantien müssten wir jedoch abgeben, wenn wir den Atommüll irgendwo „sicher“ lagern wollten. Das bedeutet aber: wenn die Atom-Option ausscheidet – dann ist die Herausforderung, die CO2-Emissionen schnell und umfassend zu senken, noch größer, denn uns bleibt auch der (scheinbare) atomare Ausweg versperrt.

Wie reagiert die Öffentlichkeit auf Hansen?

Man greift ihn an. Man verspottet ihn. Man verhaftet ihn mehrmals.
Man verleiht ihm Preise.
Man sagt, er sei ein „Panikmacher“.
Vor allem aber erwartet man, er solle „endlich den Mund halten“. Aber genau das wird der mittlerweile 84 Jahre alte Mann nicht tun.

Ich schreibe diesen Text im August 2025. Wir erleben weltweit eine Renaissance der fossilen Energieträger. Die USA unter Donald Trump bekämpfen die exakten Klimawissenschaften mit allen dem Staat zur Verfügung stehenden Mitteln, Vernichtung von Datenbanken inklusive. Wir erleben weltweit weiter steigende CO2-Emissionen. Wir sehen eine deutsche Wirtschaftsministerin, die im großen Stil in neue Gaskraftwerke investieren will.
Was wir sehen, ist das glatte Gegenteil von dem was erforderlich wäre, um die Existenz der Menschheit zu schützen. „Drill Baby, drill!“ ist aus den USA zu hören und die rasant schnell auftauenden ehemaligen Permafrostgebiete der Welt geben neue Lagerstätten frei: gewaltige kurzfristige Renditen verlocken Investoren, „schnelles Geld“ zu verdienen. Genau das wird passieren.

Wenn Hansens Zahlen jedoch richtig sind, hier die hässliche Mathematik im Klartext:

  • Wir haben bereits jetzt eine Erwärmung von etwa 1,6 °C und die bereits jetzt sichtbaren Folgen sind gewaltig und verschlingen bereits jetzt Unsummen. Bereits jetzt sprechen die Rückversicherer davon, daß bestimmte Schäden „nicht mehr versicherbar“ sind.
  • Mit der derzeitigen Politik jedoch werden wir bereits in etwas mehr als einem Jahrzehnt die 2-Grad-Marke überschreiten (ca. 2030/35).
  • In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts (ab 2050) werden wir auf 4 °C oder mehr herabblicken – eine Welt, in der Eisschilde kollabieren, die Ozeane um Meter ansteigen, Küstenstädte überflutet werden, die Ernährungssysteme unter Hitze und Dürre zusammenbrechen und Massenmigration keine Krise, sondern die Norm ist.

Man muss bei der Betrachtung dieser Zahlen bedenken: 4 °C sind der globale Durchschnitt. An Land, und vor allem im Inneren von Kontinenten, auch in lebensspendenden bisherigen „Kornkammern“, sind das eher 6–8°C. Ganze Regionen werden buchstäblich unbewohnbar und unbewachsen sein, eine Situationen, wie sie ja sogar das zurückhaltende IPCC in seinen „worst case szenarios“ beschreibt.

Das ist Physik. Mehr Hitze im System verändert alles, Stürme, Regenfälle, Landwirtschaft, Ökosysteme, Wirtschaft, Politik. Und da sich der Planet schneller erwärmt, als die Modelle vorhergesagt haben, wird „später in diesem Jahrhundert“ „noch zu unseren Lebzeiten“ sein.

Man kann das natürlich alles als „Spinnerei eines alten Mannes“ abtun.
Man kann weiter mit Trinkwasser seinen Garten gießen oder die Toilette spülen. Selbstverständlich kann man das.
Man kann weiter in den Urlaub fliegen, sich ein neues Verbrenner-Auto kaufen, weiter die Wohnung mit Öl oder Gas heizen. Man kann weiterhin die Augen verschließen, sich ein frisches Bier aufmachen und den Grill anwerfen. Selbstverständlich kann man das. Die meisten werden das auch so tun.

Aber, was ist eigentlich, wenn James Hansens Zahlen stimmen?

Ein Kirch-Gang im Bundeshauptdorf

Ein Kirch-Gang im Bundeshauptdorf

Heute nehme ich mir vor, zu 11 Uhr in „Samariter“ zu sein, einer Kirche, die ich noch nicht kenne, auf deren Elf-Uhr-Gottesdienst aber gestern bei Facebook aufmerksam gemacht worden war. Hoch lebe das Internet!

Ich schaue mir die Entfernung an: 20 Minuten mit dem Fahrrad, 12 Minuten mit dem Auto, etwa 40 Minuten mit Öffentlichen und etwas über eine Stunde zu Fuß. Nein, ich fahre nicht, ich mache einen Kirch-Gang – und gehe zu Fuß. Ich will die Stadt sehen, in der ich wohne, auf dem Wege zu einer Kirche, die ich nicht kenne.

Der Weg beginnt eigentlich in einem alten Berliner Vorort, der erst seit 1920 zur Stadt gehört, in der Gärtnerstraße, führt dann die Große-Leege-Straße hinunter, die langweilig ist. Das ist „Wohnstraße“, „Schlafstraße“. Keine Restaurants, keine Geschäfte, ein paar Innenhöfe zeigen sich versteckt durch Hausdurchgänge, ich folge den Einblicken nicht, will weiter. In der Straße lädt nichts zum genaueren Hinsehen ein. Der Weg führt über die Landsberger hinüber – dort wird grade mächtig gebaut, die städtischen Wasserleitungen sind dringend sanierungsbedürftig, gewaltige Rohre liegen bereit, in denen ein Erwachsener aufrecht stehen könnte. Hinüber zur Vulkanstraße, dann, kurz vor einem Parkplatz abbiegend, führt der Weg quer durch ein Neubaugebiet mit gewaltigen Hochhäusern. Schlafburgen sind das. Von außen wirkt das auf mich wie ein riesiges Gefängnis. Einige Wohnungen sehe ich mit kaputten Fenstern, andere sind mit Silberfolie ausgebessert, es sieht schlimm aus, wenn ich mir die gewaltige Fassade eines solchen Giganten betrachte. Hier ist alles viereckig. Ein paar Menschen sind auszumachen, da ganz oben an einem der Fenster. Sie schauen herunter auf die Welt, in die sie wohl nur heruntersteigen, wenn es sich gar nicht vermeiden lässt.
„Man kann einen Menschen auch mit einer Wohnung erschlagen“ fällt mir ein, Heinrich Zille soll das mal gesagt haben und der kannte sich aus in den Berliner Wohnmilieus.
Weiter geht der Weg an REWE und EDEKA vorbei in die Möllendorffstraße. Dort wird das Hochhaus-Wohn-Elend noch dramatischer.
Wer einmal großstädtische autogerechte aber menschenfeindliche Wohnweise in ihrem ganzen Elend sehen will, sollte in die Möllendorffstraße gehen und sich dort die gewaltigen Hochhäuser genau besehen, die da zu sehen sind. Man findet Vergleichbares in vielen deutschen Städten. Sünden der siebziger Jahre.
Auf Höhe Loepernplatz führt mich mein Kirchgang nach rechts beim HADI-Friseur, einem Barbershop, vorbei zunächst in die Scheffelstraße, dann über die Eldenaer Brücke. Unter mir S-Bahn-Gleise und Gleise des Fernverkehrs. Berlin ist eine schnelle Stadt. Über 14.000 Menschen arbeiten für die Berliner Verkehrsbetriebe. Das rattert und rast den ganzen Tag im Minutentakt. Diese Stadt schläft nicht.
Dann bin ich bald da, bin schon über eine Stunde unterwegs, die Samariterstraße führt von der Eldenaer Straße linksab, die Kirchturmspitze ist schon zu sehen. Ich habe noch eine dreiviertel Stunde Zeit bis zum Beginn der Veranstaltung, das ist gut und richtig so, so hatte ich das auch geplant, weil ich „Witterung aufnehmen“ will in diesem Kiez, in dem der „Samariter“ das Thema vorgibt; die Kirche ist in Sichtweite, also setze ich mich „auf einen Kaffee“ gleich gegenüber in einen „Türkenladen“ und bestelle mir einen Kaffee. „Espresso haben wir nicht, aber normalen Kaffee“ sagt einer der beiden Männer, die sich da am Sonntagvormittag offensichtlich um den Laden kümmern, wenn sie nicht grad draußen als ihre eigenen Gäste am Tisch sitzen und schwarzen Tee trinken.

Gleich nebenan war ich eben am Gemeindebüro vorbeigelaufen, nicht, ohne mir ein Erinnerungsfoto mitzunehmen:

In dieser Kirchengemeinde geht es also um Gutwilligkeit gegenüber Hunden, Union Berlin hat hier Fans, im Gemeindesaal gibt’s eine Suppenküche und ein Nachtcafé, ein Kindergarten ist vorhanden und Migrationsberatung findet statt.
Ich werde neugierig.
Großstadt-Gemeinden bilden inhaltliche Schwerpunkte. Hier also: „Migrationsberatung“. Man arbeitet mit Flüchtlingen.

Die Kirche selbst – eine jener zahlreichen Kirchen, die Kaiserin Auguste Viktoria (im Volksmund „Kirchenjuste“ genannt; allein in Berlin 53 Kirchen!) der Stadt hinterlassen hat: ein neogotischer Klinkerbau. Nix Besonderes. Solche Kirchen finden sich zahlreich in der Stadt. Wichtiger ist mir, was drinnen vor sich geht.

Mein Kaffee ist ausgetrunken, ich habe noch ein paar Minuten, gehe eine Runde um die Kirche herum. An einem Seiteneingang nochmals der Hinweis auf die Migrationsberatung, die hier geleistet wird. In der Bänschstraße sehe ich ein wunderbar restauriertes altes Berliner Mietshaus, einst großbürgerlich, mit wundersamen Balkons, die mich auf die Idee bringen, eine Fotoserie über Berliner Balkone aufzunehmen. Hier meint man, in Venedig oder andernorts weiter südlich angekommen zu sein. Eine hübsche Überraschung.

Neben dem Eingang der Kirche der wichtige Hinweis auf die Bekennende Kirche und Wilhelm Harnisch.

„Ein guter Ort“, geht mir durch den Sinn. Das Thema „Bekennende Kirche“ begleitet mich nun schon fast ein halbes Jahrhundert. Immer wieder bin ich auf den Spuren jener verdammten 12 Jahre zwischen 1933 und 1945. Sie sind ein Lebens-Thema geworden.
Im Kirchenraum ist es noch leer, ich bin früh dran. Ein Kantor und eine junge Frau – vermutlich die Lektorin – unterhalten sich. Letzte Absprachen. Ein freundliches „Guten Morgen“ verbindet uns sofort. Ich nehme Platz im vorderen Drittel des großen Raumes und besehe mir den Altar-Raum in aller Ruhe, während nach und nach die meist jungen Menschen kommen, die an der Veranstaltung teilnehmen wollen. Der Raum sagt mir zu: Sorgfältig vorbereitet, auch die Details stimmen. Einladend vorbereitet. So soll es sein.
An Hitzetagen dient dieser schöne Raum auch als Hitze-Schutzraum für Menschen, die mal eine Pause brauchen von der Hitze der Stadt, ein wenig Schatten, etwas Kühlung. Die großen Kirchenräume bieten sich dafür sehr gut an, zumal stehen sie mitten im Wohngebiet, sind gut erreichbar und haben viel Platz.

Blau – die Farbe des Himmels. Marc Chagall hat am Ende seines Lebens beinahe nur noch in Blau gearbeitet. Wer‘s nicht glaubt, fahre einmal nach Mainz und besehe sich St. Stephan, das „Testament“ des großen Meisters. Rot – die Farbe der Liebe; Gold – die göttliche Farbe. Damit ist alles Wesentliche eigentlich schon gesagt. Die transparenten Fenster bringen das „Licht von außen“ sehr gut in den Raum. Wir leben in finsteren Zeiten, da ist ein „Licht von außen“ gut zu gebrauchen.

Pfarrerin Jasmin El-Manhy bereitet sich an der Seite des Kirchenschiffes vor, das ist immer ein wenig fummelig mit dem Ansteckmikrofon am Talar, man kennt das. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, die Sache ist erst fertig, wenn sie fertig ist.
Wir Zuhörer erfahren gleich zu Beginn ihrer Textauslegung, daß sie „Familie in Ägypten“ hat. Da passt das Thema Migrationsberatung wohl gut sowohl zur Gemeinde als auch zur Pastorin. Da ist etwas „stimmig“, wie Musiker vielleicht sagen würden.

Worum geht es heute? Um das Thema „Brot“.
Ein Hinweis also. Ein uraltes Symbol. Antwort auf eine Lebens-Frage: wovon lebe ich eigentlich? Was nährt mich wirklich? Was nährt meine Seele?
Wir leben in Wohlstand und Freiheit – sind aber doch oft unglücklich, streitlustig, aggressiv, rechthaberisch, wirken immer mehr „kriegstüchtig“, sind auf Zank und Streit aus – Zeichen, daß es unserer Seele nicht gut geht, sie ist nicht gut genährt, jeder Therapeut und jeder Seelsorger kennt diese Anzeichen des Seelenzustandes eines Menschen.
Was aber nährt die Seele? Was wäre denn „das richtige Brot“? Was wäre denn das „Brot des Lebens“?

Darum geht es und um die Frage, die gleich zu Beginn in einem uralten Text auftaucht und gemeinsam von allen gelesen wird: Wo ist eigentlich für mich „eine Stadt, in der ich wohnen kann“?

Der alte Text aus der Liedersammlung des Königs David lautet:
„Dankt dem HERRN, denn er ist freundlich und seine Güte währet ewig. So sollen sagen, die erlöst sind durch den HERRN, die er aus der Not erlöst hat, die er aus den Ländern zusammengebracht hat von Osten und Westen, von Norden und Süden. Die irregingen in der Wüste, auf ungebahntem Wege, und fanden keine Stadt, in der sie wohnen konnten, die hungrig und durstig waren und deren Seele verschmachtete, die dann zum HERRN riefen in ihrer Not und er errettete sie aus ihren Ängsten und führte sie den richtigen Weg, dass sie kamen zur Stadt, in der sie wohnen konnten: Die sollen dem HERRN danken für seine Güte und für seine Wunder, die er an den Menschenkindern tut, dass er sättigt die durstige Seele und die Hungrigen füllt mit Gutem.“

Da ist sie wieder, die „Migrationsberatung“ für alle die „Menschen aus Ost und West, von Norden und Süden“.
Hier findet sich „eine Stadt, in der sich wohnen lässt“. Hier findet sich Gemeinschaft und Gesang.
Hier kann man wieder mal aufatmen von der Last der Woche, abladen, was einem zu tragen zu schwer wurde. Durchatmen, loslassen, singen.

Im Zentrum: Brot und Wein – gemeinsames Essen und Trinken, das ist hier gelebte Praxis in Samariter. Man hört einander zu, man wendet sich dem Nachbarn zu, man ißt gemeinsam. Denn:
Wir sind alle Fremde unter Fremden. Wir sind allesamt nur Durchreisende. Es gibt also überhaupt gar keinen Grund von „wir hier“ und „die da“ zu sprechen.

Mir sagt zu, was ich hier wahrnehme. Das ist glaub-würdig und authentisch. Das ist nicht „gemacht“, sondern schlicht, einfach, durchscheinend, transparent. Hier geht es um Zuwendung und Trost, Stärkung und gemeinsame Hoffnung. Das sagt mir zu. Eine Stadt wie Berlin, in der alle Nationen der Welt vertreten sind, braucht solche Orte der Verständigung und des Miteinanders.

Am Ausgang kann man Geld spenden. Diesmal wird für die Arbeit mit Menschen gesammelt, die an den Berliner Bahnhöfen gestrandet sind. Das alte Wort „Bahnhofsmission“ zeigt ja nur wenig von der wichtigen Arbeit, die da eigentlich an Menschen geleistet wird, die eine Soforthilfe brauchen. Wer etwas in die andere Schale legen will, kann die „Migrationsberatung“ unterstützen. Auch das gefällt mir gut. Hier denkt man nicht nur an sich, sondern an andere. Ganz praktisch. Jeder gibt, was er will und kann.

Den Rückweg nehme ich wieder unter die Füße.
Ich will nachklingen lassen, was da eben aufgeklungen war; will dem nach-denken, was da angesprochen war. Ich gehe durch die Millionenstadt Berlin und der uralte Satz klingt in mir nach von jener „Stadt, in der man leben kann“. Tausende Menschen kommen hierher, weil sie hoffen, daß ihnen hier geholfen wird. Berlin ist Deutschlands Haupt-Anlaufstelle für Flüchtlinge. Kaum eine andere Stadt hat so viel Erfahrung im Umgang mit Menschen aus anderen Ländern. Sie suchen Heimat, suchen einen Ort zum Leben.

Das gilt aber ebenso für die Menschen da oben in den Hochhäusern in der Möllendorffstraße in ihren viereckigen Gefängnissen mit den kaputten Fensterscheiben.
Wo haben diese Menschen denn „eine Stadt, in der man leben kann“?

In solchen Gedanken komme ich am „Hohenschönhausener Tor“ an und setze mich zum Türken in die Bar, draußen droht ein kräftiger Regenschauer, da ist dieser Ort gerade richtig für ein kleines Mittagessen.

Es gibt „chinesische Frühlingsrollen mit Hühnerfleisch“ und ein Berliner Pils – im Plastikbecher. „Gläser ham wa nich“.
Ich sitze in dieser Bar als Fremder unter Fremden. Hier in dieser Bar, die es zu Hunderten gibt in dieser Stadt an diesem Sonntagvormittag, höre ich russisch, chinesisch, einen Menschen aus Afrika sehe ich, neben mir ein Ukrainer, der Chef des Ladens kommt aus der Türkei.
Wo ist Heimat? Wo ist die Stadt, „in der ich wohnen kann“? Eine Frage, die uns verbindet.

Neben mir der ältere Ukrainer im edlen Samthemd, mit Edelsteinring am Finger und Goldschnallen am Schuh löffelt seine Wan Tan Suppe, das riesige Smartphone neben sich. Wo ist sein zu Hause?

Der junge Russe im blauen Trainingsanzug, weißen Socken und Gummisandalen holt sich, das Handy noch am Ohr, einen kleinen Vodka aus dem Kühlschrank und zahlt gleich, die Sache geht schnell, er ist offenbar „in Geschäften unterwegs“.

Die Familie, die draußen vor dem Gastraum gesessen hat, ist weitergezogen. Zwei Kinder und eine jüngere Frau mit schmutzig roten Haaren und rosa Koffern voran, zwei „Galgenvögel-Gestalten“ hinterher, in der rechten Hand Bierflasche und Zigarette, mit der Linken wird der Kinderwagen mit dem dritten Kind geschoben – wo ist die Stadt „in der man leben kann“? Wo haben diese Menschen, mit denen ich eine kurze Zeit verbunden war, ihr zu Hause? Wo findet ihre Seele Nahrung?

Der Bus vom Schienenersatzverkehr bringt mich die letzten anderthalb Kilometer.
„Berlin ist hart aber herzlich“ klingt es im Bus-Lautsprecher.
„Deshalb zeigt Respekt und seid freundlich zueinander.“

Sie war eine stille, zugewandte Frau. Ein Nachruf auf Ilse Jehle

Sie war eine stille, zugewandte Frau. Ein Nachruf auf Ilse Jehle

Ilse war eine jener Frauen, die still ihre zugewandte Art leben, die ihr Wesen ausmacht, derer aber oft nicht gedacht wird, wenn sie gegangen sind.
Sie war keine Berühmtheit, man wird ihr kein Mausoleum errichten, man wird ihr kein Staatsbegräbnis ausrichten – ich will aber öffentlich an sie erinnern, denn der eine oder andere, der bei Facebook unterwegs ist, hat sie auch gekannt.

Ilse war krank, das wusste ich, aber sie starb dennoch unerwartet. Mich hat diese traurige Nachricht faktisch „zufällig“ erreicht, als ich nach einem Urlaub bei facebook nachsah, was eigentlich mit Ilse „los“ sei. Es war so still geworden um sie. Auf ihrer Seite fand ich dann den Eintrag eines anderen Freundes, der darauf schließen ließ, daß Ilse gestorben sei.
Inzwischen bin ich mit der Familie im Kontakt. Mich hat Ilses Tod ziemlich betroffen gemacht, denn er kam überraschend.

In einem ihrer letzten Briefe – sie schrieb in ihren wunderbaren bunten Paketen, die sie hin und wieder schickte, gern farbig ausgestaltete Briefe – schrieb sie davon, daß es ihr gut gehe, daß sie sich auf die Begegnungen mit den Enkelkindern freue und klang eigentlich fröhlich und guten Mutes. Nun aber lag sie doch mehrere Wochen schwerkrank, wurde von Angehörigen gepflegt und ist nun still gegangen.

Wer war sie für mich und die Freunde, die sie kannten?
Ich habe Ilse zunächst per Facebook, später dann auch einmal persönlich kennenlernen dürfen, als sie mich in der Uckermark im Dörfchen Hetzdorf besucht hat. Die Sache kam so: ich hatte in jenem uckermärkischen Dörfchen ein Internet-Projekt begonnen und dazu aufgerufen, sich, wenn man möchte, mit einer Rosenspende an einem neu zu errichtenden Rosen-Garten zu beteiligen. Die Sache ging sehr schnell voran, Zeitungen und Fernsehen kamen, um von diesem „Internet-Garten“ zu berichten und das Dörfchen wurde bekannt, was ja auch beabsichtigt war. Ilse Jehle war eine der ersten, die spontan bei dem riskanten Projekt dabei war – und seither dabei geblieben ist.

Ilse schickte Rosen, sie schickte Blumensamen, sie schickte Bücher für die Rosenbibliothek – ich habe immer vermutet, sie müsste wohl irgendeine geheime Quelle für all die interessanten Bücher haben, die sie uns spendiert hat. Da ist im Laufe der Jahre so manches zusammen gekommen. Ich habe Ilse immer als großzügig erlebt, sie hat freudig geschenkt, mit viel Liebe ihre Pakete gepackt und die Briefe dazu geschrieben. Das war bunt und fröhlich und vor allem herzlich.

So manche Mail habe ich ihr geschrieben, sie solle uns nicht so viel schenken, die Sachen kosteten doch alle Geld – das hat sie aber nicht weiter beeindruckt. Sie wollte uns helfen und sie tat es aus vollem Herzen. Mit anderen Worten: Ilse Jehle gehört im Rosengarten im uckermärkischen Hetzdorf wohl ein kleines Denkmal, denn sie hat das Projekt immer aus vollem Herzen unterstützt.

Eines Tages, da schrieb sie mir, sie würde ihre Tochter besuchen, die in der Nähe in Ausbildung sei und Hetzdorf läge doch sozusagen, von Süddeutschland aus gesehen, „am Wege“ und wie es denn mit einem Treffen wäre? Na prima wäre das! Und so kam es dann, daß wir uns getroffen haben. Mutter und Tochter saßen da auf meiner Couch mit dem schönen Blick zum Bach hinunter in den alten Garten.

Als ich 2016 in den Ruhestand ging und Hetzdorf Richtung Berlin verlassen habe, blieb der Kontakt zu Ilse bestehen. Wir waren, was die Beurteilung der gesellschaftlichen und politischen Situation in unserem Lande anbetrifft, sehr oft der gleichen Ansicht. Ich konnte das daran erkennen, welche meiner Beiträge Ilse geteilt hat auch gab es so manche Mail zwischen uns in diesen Angelegenheiten.

Ilse gehörte zu denen, die ein Interesse an meinen Büchern hatte und ich hab sie ihr immer gern geschickt, weil ich wusste, daß sie die Arbeiten aufmerksam lesen würde. So war es offenbar auch mit dem Krebstagebuch, das sie und ihre Angehören in Ilses letzten Lebenstagen intensiv beschäftigt hat.

Mir wird wohl ein inneres Bild von Ilse bleiben: ich sehe da ein schlankes, beinahe zierliches Persönchen, überaus freundlich und zugewandt, treu vor allem – was sie zusagte, hielt sie. Sie war unterstützend, hilfreich, verständnisvoll, kurz: ein durch und durch helfender Mensch. Ich habe mich manchmal gefragt, ob diese Zugewandtheit anderen Menschen gegenüber vielleicht auch ein wenig von der Bedürftigkeit ihrer eigenen Seele erzählt hat. Aber das kann ich sie nun nicht mehr fragen.

Ich bin sehr froh, Ilse kennengelernt zu haben. Ich bin dankbar für die jahrelange Verbindung zwischen uns. Ich weiß, daß es etlichen anderen Menschen, die sie gekannt haben, ebenso geht. Wir wollen sie in guter Erinnerung behalten.

Kindertransporte 1938/39 (7). The Goring Hotel.

Kindertransporte 1938/39 (7). The Goring Hotel.

Von Nick und Tim war im letzten Beitrag die Rede. Nun gehen wir ihrer Großmutter nach, „Steffie“, wie sie ihre Zeichnungen beim Berliner Ullstein-Verlag ab 1922 kennzeichnete. Steffie Nathan, verheiratete Schaefer, geschieden im April 1939, wenige Tage vor der Ausreise (22. Mai) ihrer Tochter Susanne mit einem Kindertransport von Berlin nach Ayr in Schottland. Steffie folgte der Tochter im Juli. Das war nur mit dem Visum für eine „Hausangestellte“ möglich. Britische Familien suchten solche Angestellten. Es war der einzige Weg, der Steffie noch blieb. Die Lage der Juden in Deutschland und Österreich war verzweifelt. Es war so gut wie unmöglich geworden, überhaupt ein Visum zu bekommen.

Sie, die als Einzelkind in einer sehr vermögenden Bankiersfamilie in Berlin aufgewachsen war; sie, die im renommierten Ullstein-Verlag, Europas größtem Verlagshaus in jenen Jahren, sogar Titelseiten von „UHU“ und von der führenden Illustrierten „Die Dame“ zeichnete – diese in vornehmen Zirkeln beheimatete Bohéme, die in Berliner Künstlerkreisen verkehrte und selbst ein Kindermädchen und eine Hausangestellte hatte – diese Frau musste nun als „House Wife“ nach London.

Sie hat an vielen verschiedenen Stellen Arbeit gesucht. Ihre Versuche, wieder als Grafikerin zu arbeiten, scheiterten. Die Einreisebestimmungen verboten es ihr, in „regulären Berufen“ zu arbeiten. England befürchtete, daß „die Einwanderer“ „uns Briten die Arbeitsplätze wegnehmen“, das war offiziell in jenen Jahren.

Ich bin ihren Orten in London nachgegangen.

Steffie hat zum Beispiel in „The Goring Hotel“ gearbeitet. „The Goring“ ist ein Fünf-Sterne-Hotel (wie das „Adlon“ in Berlin) und gehört zu den 5 besten Fünf-Sterne-Hotels weltweit, wie eine Tafel aus dem Jahr 2025 stolz verkündet:

Man kann dort heutzutage für 900 britische Pfund pro Nacht übernachten, wenn man will und kann. Meine Frau und ich haben uns das alte Familienhotel – gegründet 1910 von Herrn Goring Senior, der mit einem Kohlehandel in Dresden vermögend geworden war – von innen besehen und „eine Tasse Tee“ für 18 Pfund getrunken, das war uns die Sache wert. In einem Nebenflur kann man die Geschichte des Hauses nachlesen. Ich habe mich immer gefragt, wie Steffie eigentlich ins Goring kam: Nun, ihre Mutter Hedwig kommt aus Dresden und Mister Goring senior ebenfalls. Man kann kann davon ausgehen, daß sich die wohlhabende Kaufmanns-Familie Markiewicz und die wohlhabende Familie Goring kannten. Vielleicht hat Herr Goring ja zur Erweiterung seines Geschäfts sogar mal einen Kredit vom Kaufmann Markiewicz bekommen, wer weiß. Die Spur jedenfalls führt nach Dresden und es ist vorstellbar, daß Mutter Hedwig über ihre „alten Kontakte“ in Dresden nach Arbeitsmöglichkeiten für ihre Tochter in London geforscht hat.

Ich wollte „Witterung aufnehmen“, ich wollte mir vorstellen, wie es Steffie irgendwann zwischen 1939 und 1944 in „The Goring“ ergangen sein mag.

Kann ich mir Ullsteins Vorzeige-Grafikerin im Kreise der Angestellten des „Goring“ vorstellen? Alte Firmen-Aufnahmen, die im Foyer des Hotels ausgestellt sind, müssen helfen:

Wo ist Steffie? Vielleicht versteckt sie sich ja in der freundlichen Bedienung, die uns den Tee bringt und uns von dem langjährigen Kollegen erzählt, der die Geschichte der Firma Goring erforscht hat und dem die alten Firmen-Bilder im Foyer zu verdanken sind?

Es ist sehr angenehm im „Goring“. Man ist sehr freundlich, sehr dezent, man lärmt nicht. Die edlen Teppiche sorgen dafür, daß man im Hause „leise auftritt“.
Gegenüber, am offenen Kamin sitzt ein russischer Geschäftsmann in Jeans und Pullover mit seiner Sekretärin und verabredet die Termine des Tages. Dezente Musik, sehr freundliche Bedienung. Freundliche Ratschläge bei der Auswahl der feinsten britischen Tees. Jeder Gast ist hier willkommen.
Weshalb sind wir hinein gegangen in dieses sehr besondere Hotel?
Ich war innerlich auf der Suche nach Steffie. Hab versucht, mir vorzustellen, wie sie wohl hier gearbeitet haben mag? Als Bedienung der Gäste? Als Zimmermädchen? „Mrs. Schaefer, come here, please….“
Man muss bedenken, als Steffie gezwungen wurde auszuwandern, war sie 43 Jahre alt.
1939 kam sie, ab 1940 herrschte Bombenkrieg in London, die Deutschen fielen über England her. „The Blitz“ begegnet einem heute noch überall in der Stadt an zahlreichen Denkmalen. Die Zerstörungen in der Stadt waren horrend. Man kann nicht davon ausgehen, daß Steffies Heimweg von der Arbeit in ihre Bleibe einfach war. Das Gegenteil dürfte der Fall gewesen sein.
Wo war Steffie in jenen Jahren? Wie kann ich mir ihr Leben vorstellen? Was ich weiß: Sie musste zusehen, daß sie nicht verhungerte. Die Bezahlung in ihren Jobs war schlecht.

Wir wissen, daß sie in London Arzthelferin war, dass sie für eine Modefirma gearbeitet hat, dass sie in einer Bibliothek beschäftigt war – immer für knappes Geld. Und sie hat in „The Goring“ gearbeitet.
Ich kann mir nun sehr gut vorstellen, daß diese „Tochter aus gutem Hause“ all diese Lebensumstände als erniedrigend empfunden haben muss. Ein Brite würde vielleicht sagen: diese Umstände waren eine Beleidigung. Das aber durfte Steffie auf gar keinen Fall und niemals aussprechen. Sie hatte still zu sein. Sie hatte dankbar zu sein. Denn: immerhin war sie am Leben geblieben. Sie hatte den Mund zu halten darüber, wie es ihr im Inneren wirklich ging.
Kein Wunder, daß sie später Kettenraucherin war, an Depressionen litt und Medikamente brauchte.

1944 hat Steffie in 31 Dorset Square gewohnt. Ganz hoch oben „in einem erbärmlichen Zimmer einer heruntergekommenen Pension hoch oben unter dem Dach“, wie Susannes Ehemann in den Siebziger Jahren aufgeschrieben hat. Nick und Tim sind mit ihrer Großmutter mal da gewesen, da hat Steffie den Enkeln diese Bleibe gezeigt. Die Jungs sind nun auch schon über 60. Sie haben keine weiteren Erinnerungen an diesen Besuch, nur, daß das Klo eine halbe Treppe tiefer war. „Es muss sehr primitiv gewesen sein“, sagt Nick.

Wir sind auch zu dieser Adresse gegangen, denn ich wollte mir vorstellen, wie Steffie – vielleicht nach der Arbeit in „The Goring“, das gar nicht sehr weit und nur ein paar Busstationen von Dorset Square entfernt ist – am Feierabend „nach Hause kam“ und völlig erschöpft die fünf Etagen zu ihrem Zimmer hochstieg – die Tochter ohne Nachricht in Schottland ….

Ganz oben unter dem Dach in 31 Dorset Square musste sie wohnen, die Toilette eine Etage tiefer im Flur, wir mir Nick bei unserem Gespräch im St. James Park erzählt hatte.
1944 übrigens, der Krieg war noch nicht zu Ende, kam Steffies Mutter Hedwig aus dem Exil in Shanghai nach London, um nun auch bei ihrer Tochter zu wohnen. Und Tochter Susanne musste aus Schottland fort, denn die Einreisebestimmungen für die Kindertransport-Kinder besagten, dass sie nur bis zum vollenden 17. Lebensjahr versorgt sein würden. Am 18. Januar aber war Susanne 17 geworden. Sie kam im Februar zu ihrer Mutter nach London. Da „wohnten“ sie nun, die drei Frauen. Es war eine elende Zeit, aber, Hedwig, Steffie und Susanne waren immerhin „noch am Leben“.
In jenem Februar 1944 begannen die amerikanische Air Force (USAAF) und die Royal Air Force (RAF) mit ihren schweren Luftangriffen auf die Rüstungsindustrie-Zentren in Mitteldeutschland. Der Krieg war für Deutschland längst verloren, aber die Deutschen glaubten noch an ihre „Wunderwaffe“, Deutsche glauben ohnehin gern an Waffen – deshalb dauerte der verlorene Krieg noch länger als ein Jahr.

Kindertransporte 1938/39 (6). Nick und Tim. Susannes Söhne.

Kindertransporte 1938/39 (6). Nick und Tim. Susannes Söhne.

Peter Lobbenberg, von dem im vorigen Beitrag die Rede war, hatte mich mehrfach ausdrücklich ermutigt, mich mit Nick und Tim zu treffen. Ich war zurückhaltend. Wie komme ich als Deutscher dazu, mich in die Familiengeschichte dieser britischen Familie zu „drängeln“? So empfand ich es anfangs. Aber Peter ließ nicht locker, nein, der Mail-Kontakt sei jetzt hergestellt und nun müsse auch ein persönliches Treffen folgen.
„Du weißt mehr als wir“ hatte mir Nick, der älteste Sohn von Susanne Schaefer, gemailt. Auch das noch. Da kommt so ein Deutscher auf den Spuren von Großmutter und Mutter und „weiß mehr als wir“, die Enkel und Söhne.

Wir verabredeten uns per Mail. Beide würden kommen, schrieb mir Nick, und uns am Hotel abholen, dann könnten wir in ein Café oder Restaurant gehen, wo wir in Ruhe sprechen könnten. So kam es dann auch.

Tim war zuerst da im Foyer des Hotels. Da kam ein sehr aufgeräumter, fröhlicher Mensch durch die Tür „Du bist Ulrich aus Deutschland?“ Ja, der war ich und gleich begannen wir zu reden, es war sehr herzlich, völlig unkompliziert. Tim, Jahrgang 1960, könnte mein jüngerer Bruder sein. Er ist Spezialist für die Pflege von Asperger-Kindern. Krankenpfleger. Ein Mann mit einem großen Herzen. „Nick kommt gleich, er hat angerufen, der Zug hat Verspätung“ sagt er. Und ich erfahre so nebenher, daß Bruder Nick zweieinhalb Stunden Bahnfahrt auf sich genommen hat, um uns in London zu treffen! Nick wohnt ziemlich weit außerhalb von London.

Dann kamen sie beide, Nick und seine Frau, hatten uns durchs Fenster schon gesehen und zugewunken. Eine fröhliche Begegnung. „Wir gehen ins Café im St. James-Park“ meinte Nick, „es ist heiß heute, da können wir draußen sitzen und ungestört reden.“ Wunderbar. St. James ist ja gleich um die Ecke, ganz in der Nähe von unserem Hotel.

Da war sofort eine Beziehung möglich: Nick (re), Jahrgang 1957, pensionierter Pastor der Anglikanischen Kirche. Na, wenn das nicht passt? Und Tim, drei Jahre jünger (li), könnte mein jüngerer Bruder sein. Wir hatten sofort einen guten Kontakt zueinander.

Und tatsächlich, ich wusste „mehr“ als die beiden Männer, die uns da gegenüber saßen. Über die äußeren Stationen von Großmutter Steffie, die deutschlandweit bekannte Grafikerin vom Ullstein-Verlag in Berlin und ihre Tochter Susanne, die im Alter von 12 Jahren mit einem Kindertransport von Berlin nach Ayr in Schottland kam und später in London lebte, wusste ich mehr – aber wie haben die Jungs ihre Mutter und Großmutter erlebt? Was wussten sie von den beiden Frauen und ihrer Vergangenheit?

Wir haben lange gesprochen. Sie wollten viel wissen. Ich auch. Wir haben langsam gesprochen, haben nach Worten gesucht, mussten auch mal den Smartphone-Dolmetscher zu Hilfe nehmen. Solche Sachen bespricht man nicht mal so nebenher bei einer Tasse Kaffee im Park, da ist Sorgfalt am Platze, Rücksicht, Vorsicht, Behutsamkeit, genaues Zuhören.
Und dann waren da immer wieder diese ganz unerwarteten, sehr anrührenden Momente, in denen das viele Ungesagte und Unerzählte dann eben doch durchschien.
„Das Denkmal für die Kindertransportkinder in Berlin-Friedrichstraße ist zweigeteilt, wie Ihr hier auf dem Foto sehen könnt“ hatte ich gesagt.
„Die eine Richtung führt nach England in die Freiheit – die anderen Kinder müssen in die andere Richtung mit dem Zug fahren – nach Auschwitz.“ Da waren die Brüder sehr angefasst, waren stark berührt – daß ihre Mutter nur so knapp dem Tod entkommen war, das war ihnen bislang nicht klar.

„Deine Großmutter war doch Jüdin“ sage ich zu Nick. „Deine Mutter also auch – wie kommt es, daß Du anglikanischer Pastor geworden bist?“ „Nun, da gab es nichts zu bedenken“ sagt Nick. „Ich wurde als Kind getauft und bin in der britischen Tradition groß geworden. Vielleicht hatten die Quäker, die Susanne in Ayr in Schottland aufgenommen hatten, einen gewissen Einfluss, daß weiß ich gar nicht. Ich bin ganz selbstverständlich wie die anderen Kinder in unserer Umgebung auch, als anglikanischer Brite aufgewachsen und Tim ebenso.“
„Unsere Mutter hat uns seltsamer Weise nie Deutsch beigebracht und sie hat auch nie von Deutschland erzählt“ sagten sie. Und wir sprachen davon, wie verschieden Flüchtlingskinder mit ihrer Vergangenheit in Deutschland umgegangen waren: einige wollten „von Deutschland nichts mehr wissen“. Steffie und Susanne waren wohl so. Sie verstanden ihre Lebensaufgabe darin, sich möglichst schnell zu assimilieren. Das war mit viel Abspaltung und Verdrängung verbunden, wie man aus heutiger Arbeit mit den letzten noch lebenden Flüchtlingskindern und ihren Nachkommen weiß. Die Historikerin Amy Williams und andere wissen davon zu berichten.
Andere, wie Peter, haben sich dem Vergangenen sehr bewusst zugewandt und haben sogar Deutsch studiert. So verschieden kann es sein, sich mit dem Vergangenen auseinanderzusetzen.

„Mutter hat nie über ihre Flucht aus Deutschland gesprochen“. Auch so ein markanter Satz, den ich schon befürchtet hatte. Da war es wieder, dieses traumatische Schweigen in der Familie. Dieses „Schweigen“ übrigens verbindet uns, Nick, Tim und mich. Dieses „Schweigen“ gab es auch in unserer Familie. Das Dritte Reich und die industrielle Vernichtung von mehr als 6 Millionen Menschen, der von den Deutschen entfesselte Krieg mit über 60 Millionen Toten – das ist dermaßen fürchterlich, daß viele Menschen darüber gar nicht sprechen konnten, es wäre zu schmerzhaft für sie gewesen. Aber, was nicht „zur Sprache gebracht“ wird, das rumort besonders stark.
Es ist unsere Aufgabe, die Aufgabe der Enkel-Generation, dieses viele Ungesagte zur Sprache zu bringen. Unsere Eltern, die Kriegskinder – deren Aufgabe war es, äußerlich den Schutt wegzuräumen, Straßen, Wege, Dörfer und Städte wieder zu bauen. Unsere Aufgabe, die Aufgabe der Kriegsenkel ist es, an die gewaltigen seelischen Schuttberge heranzugehen, die die „fürchterlichen 12 Jahre“ hinterlassen haben und sie nach und nach aufzuräumen. Da ist noch sehr viel Arbeit zu leisten.

Wir haben über drei Stunden gesessen und geredet. Wir erfuhren, daß sowohl Großmutter Steffie, die eine starke Raucherin war, als auch ihre Tochter Susanne, mit der sie in einer sehr engen Beziehung stand – „die haben täglich miteinander telefoniert! Jeden Tag gegen Abend! Das war ganz selbstverständlich, als wir Kinder waren. Ich war 15, als Steffie starb. Es war eine Katastrophe für unsere Mutter“ – beide Frauen hatten unter schweren Depressionen zu leiden, waren emotional nicht immer ausgeglichen, schnell überfordert. Ein letzter Brief von Steffie an ihre Freundin Jeanne Mammen in Berlin, der mir vorliegt, spricht von diesen Seelenzuständen sehr offen.

Wer sich heute mit Hilfe von Fachliteratur über die seelischen Folgen der Kinder-Flucht nach England informiert, z.B. in Julian Borger „Suche liebevollen Menschen“ oder Rebekka Göpfert, „Der jüdische Kindertransport von Deutschland nach England 1938/39“ – der findet exakt das, was Nick und Tim auch von ihrer Mutter und Großmutter in Erinnerung haben: Schweigen, emotionale Instabilität, Reizbarkeit, Depressivität.
Das hat Gründe, die lange nicht gesehen wurden: Kindertransportkinder hatten nicht selten das Gefühl, hinter „den eigentlichen Opfern in den KZs“ zurücktreten zu müssen. Sie seien schließlich gerettet worden, müssten also vor allem dankbar sein – die „eigentlichen Opfer des Holocaust“ seien die vielen Millionen ermordeten Menschen. Eine solche Selbsteinschätzung führte zu großem Leid. Vieles blieb unbetrauert, vieles blieb beschwiegen und hatte umso stärkere seelische Wirkung.

Es war eine sehr bewegende Begegnung zwischen Tim, Nick, seiner Frau, meiner Frau und mir – zwischen gleichaltrigen Deutschen und Briten.
Da traf sich die Enkelgeneration. Nachfahren der Deutschen, die in jenen Jahren so großes Unheil über die Welt gebracht hatten und Nachfahren derer, die vor den Deutschen fließen mussten. Wenn ich an dieses sehr besondere Gespräch zurückdenke, geht mir ein Satz besonders nach, den einer der beiden Brüder ziemlich am Ende unseres Gesprächs fand.
„Weißt Du“ sagte er, „mein Bruder und ich, wir haben noch nie so wie heute über unsere Mutter und Großmutter gesprochen. Danke, daß Ihr gekommen seid.“

Kindertransporte 1939 (5). Peter Lobbenberg

Kindertransporte 1939 (5). Peter Lobbenberg

Wie habe ich den freundlichen Peter Lobbenberg eigentlich kennengelernt? Ich glaube, das war so: mein Büchlein über den Prerower Arzt Dr. Hans Beu war gerade fertig, der, obwohl Mitglied der NSDAP, einen jüdischen Jungen, den man in Prerow unter dem Namen „Seppl“ kannte, geschützt hat. Für Seppl und seine spätere Frau wurde im September 2024 in Stralsund ein Stolperstein verlegt. Bei der Verlegung lernte ich Frau Friederike Fechner von der „Initiative zur Erinnerung an jüdisches Leben in Stralsund“ kennen, die sich sehr engagiert um die jüdische Geschichte der Hansestadt bemüht. Frau Fechner wiederum war Peter Lobbenberg dankbar, weil er ihr bei der Recherche Stralsunder Juden von London aus geholfen hat, ein Umstand, der inzwischen auch öffentlich im Gedenkbuch für die Stralsunder Juden lobend vermerkt ist. Den müsse ich „unbedingt kennenlernen“, hatte sie gemeint.
War es so? Nein, so war es nicht, sondern andersherum:
Ich hatte mich an die AJR (Association of Jewish Refugees) in London gewandt, ob man mir behilflich sein könne, die Liste des Kindertransports vom 22. Mai 1939 nach London zu finden. Der Chefredakteur antwortete mir: das könne er nicht selbst, aber er würde meine Suchanfrage in seiner Zeitschrift, die weltweit vertrieben wird, kostenlos abdrucken. Es dauerte nur ein paar Tage, dann meldete sich ein Peter Lobbenberg per Mail aus London. So war das. Und dann stellte sich im beginnenden Mailwechsel die Verbindung nach Stralsund heraus, richtig, so sind die Zusammenhänge mit Stralsund. Wir waren also via Stralsund schon ziemlich nahe beieinander, ohne uns zu kennen.

Das änderte sich nun. Peter, der vorzüglich Deutsch spricht und schreibt, half mir, Susanne Schaefer in England zu recherchieren. Er fand hoch oben in Scotland ein kleines Museum, das Dokumente von Susanne aufbewahrt, er half mir sogar mit ersten Fotos von Susanne, die im London Museum aufbewahrt werden. Dann konnte er einen Kontakt zu Nick und Tim herstellen. Das sind die beiden Söhne von Susanne Schaefer, Jahrgänge 1957 und 1960, von denen wird in einem späteren Beitrag noch zu sprechen sein.

Kurz: als klar war, daß meine Frau und ich für weitere Recherchen nach London reisen würden, war auch klar, daß wir Peter besuchen würden, er hatte uns ausdrücklich eingeladen.

Nun war es so weit. Wir waren auf der Route, die Susanne 1939 von Berlin via Hoek van Holland, Harwich, Liverpool Street Station gekommen war, ebenfalls angereist und hatten uns für den 1. Mai nachmittags bei Peter verabredet. Peter war so freundlich und holte uns in Golders Green im Norden der riesigen Metropole von der U-Bahn-Station mit dem PKW ab. Es war ein heißer Tag. „Das ist wunderbar, da können wir im Garten sitzen“, hatte er am Telefon gemeint.

Und dann saßen wir bei ihm im Garten und redeten miteinander.

Peter liebt das Private, weshalb ich nur wenig von ihm erzählen will, aber ein paar Hinweise sollen es doch sein. Peter ist Jahrgang 1939, also jenem Jahrgang, als Susanne nach England fliehen konnte und jenem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg begann. Peter stammt eigentlich aus Deutschland, seine Eltern waren gerade vor den Nazis geflohen, Peter kam in England zur Welt. Peter hat sich sein Lebtag um die Geschichte jüdischer Flüchtlinge gekümmert, hat im AJR geholfen und verfügt über excellente Kontakte, die bei weiterer Recherche hilfreich sein können. Er hat mich auch ermutigt, mich mit Nick und Tim zu treffen.

Er hatte für den Nachmittagstee selber Kuchen gebacken und als wir dann draußen unter der Rose saßen, die an seinem Haus zum Dach hinauf klettert, berichtete er uns ausführlich von seiner eigenen Familie. Dann stand er auf und holte eine Bleikiste. Darin Briefe. Briefe, die er nach dem Tode seiner Mutter „zufällig“ in ihrem Nachlass gefunden hatte. „Wie oft hast Du diese Briefe schon in der Hand gehalten?“ fragte ich ihn.
Er lächelte schüchtern. „Viele hundert Male“ sagte er.

Anfänglich interessierten den Briefmarkensammler Peter am Fund in der Bleikiste „nur die Briefmarken“ – bis er einen Brief öffnete und las. Es war ein Brief seiner Großmutter an ihn, Peter Lobbenberg! Der erste Brief ist auf den Tag datiert, als er auf die Welt kam. „Willkommen, lieber Peter, in dieser Welt“ schrieb seine Großmutter. Was für ein Fund! Viele Briefe lagen da in dieser Bleikiste, die er bislang nicht kannte. Seine Mutter hatte sie ihm nie gezeigt – da ist es wieder, dieses „Schweigen in der Familie“, das inzwischen tausendfach bezeugt ist. Nun, nach ihrem Tode, hatte er die Briefe in ihrem Nachlass gefunden und erfuhr, was bislang verschwiegen war, er begann, die Briefe sorgfältig und oft zu lesen, auszuwerten, zu recherchieren. Peters Großmutter ist im KZ umgekommen. Ein letzter Brief kommt von dort. Bei seinem Besuch in Deutschland war er auch in Siegburg. Die Zeitung dort hat seine Geschichte erzählt.
Peter hat es nicht bei der Lektüre und der Recherche belassen, sondern einen befreundeten Musiker gebeten, diese Briefe zu vertonen. Ronald Corp, der in Bath bei London lebte, hat diese Arbeit geleistet. Es gibt eine englische und eine deutsche Fassung dieses Kammermusikstückes, Peter meint, die englische sei „besser“, denn Ronald Corp habe sich mit der „Sprache der Deutschen“ sehr schwer getan.

Das Werk wurde inzwischen mehrfach öffentlich aufgeführt. Peter erzählte uns von der besonderen Aufführung im Jüdischen Museum in Frankfurt/Main am 2.12.2024, zu der er trotz seines Alters persönlich angereist war.

Peter hat, sehr anders als Susanne Schaefer und andere Flüchtlinge, die sich nach ihrer Flucht und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges sehr klar von allem „Deutschen“ abgegrenzt hatten, das Gegenteil getan: er wollte verstehen, was es mit „diesen Deutschen“ auf sich hat – er studierte „die Sprache der Mörder“ und Französisch. Peter spricht und schreibt hervorragend deutsch, das hat unser Gespräch sehr erleichtert.
Es wurde ein langer Nachmittag, der Abend kam, wir saßen immer noch und redeten. Der Tag dieser besonderen Begegnung endete erst spät in der Nacht, denn Peter hatte uns zum Abendessen eingeladen und er fuhr uns durch Teile Londons, die ein London-Besucher sonst wohl eher nicht zu sehen bekommt. Wir saßen noch lange in einem seiner Lieblingsrestaurants und das Gespräch miteinander wollte und wollte einfach nicht aufhören. Ich bin nun im engen Kontakt mit Peter Lobbenberg und ich bin sehr dankbar für die Begegnung mit diesem stillen, eher zurückgezogenen, klugen und wachen Menschen, der weltweit mit vielen Menschen verbunden ist, denen die jüngere europäische Vergangenheit nicht gleichgültig ist, weil sie um die in sehr vielen Familien verheerenden Folgen von verschwiegener Schuld und verschwiegenem Leid wissen. Ihm verdanke ich auch den Hinweis auf Julian Borger, den Politikchef von „The Guardian“, mit dem er befreundet ist. Peter kannte den Großvater von Julian, davon ist in dessen spannendem Buch „Suche liebevollen Menschen“, in dem Borger seine eigene – bislang verschwiegene – Familiengeschichte recherchiert, die Rede. Weshalb er sein Leben lang jüdische Schicksale und Verbindungen erforscht, recherchiert und aufgeklärt habe, hatte ich Peter gefragt und er antwortete mit einem Bild, das mir auch sehr vertraut ist. „Das ist, als wenn Dir einer auf der Schulter sitzt und Dir ins Ohr flüstert: „Du musst das herausfinden und aufschreiben!““ hatte Peter gesagt. Genau so ist es und genau deshalb war ich nun auf den Spuren von Susanne und ihrer Mutter Steffie in London. Die ersten Hinweise hatte ich in Prerow bekommen, dann kam die Geschichte mit Albert Schaefer-Ast, dem Vater von Susanne und Ehemann von Steffie. Mittlerweile hat sich daraus eine recht große Geschichte entwickelt, die zu völlig überraschenden Begegnungen geführt hat und immer „größer“ wurde. In den nächsten Beiträgen zur Recherche-Reise nach England wird davon die Rede sein.

Kindertransporte 1939 (4) von Hoek van Holland nach London

Kindertransporte 1939 (4) von Hoek van Holland nach London

„Morgen früh, wenn alles gut geht, wird die Fähre an Land anlegen. Die Station heißt Harwich. Harwich liegt in England.“ Das waren die letzten Sätze im Abschnitt zuvor.

Wir sind um 19 Uhr an Bord. 11. Stock Außenkabine mit 5 Betten. „Hoffentlich kommt nicht noch jemand“, denken wir uns und der Wunsch wird erfüllt, wir haben die Kabine für uns .
Dann gehen wir aufs Oberdeck und sitzen in der Abendsonne.
Rhein und Maas strömen vor uns Richtung Meer, die Mündung ist sehr breit, hier können die ganz großen Pötte fahren.
Vor uns, tief unten, reger Schiffsverkehr. Riesige Frachter passieren die Hafeneinfahrt. Die ganz großen Pötte werden geschleppt. Auf dem anderen Ufer gewaltige Tanklager. Öl, Gas, Chemikalien. Alles, was die moderne Industriegesellschaft verlangt, ist hier gelagert.
Unter uns werden LKWs nach Harwich verladen. Handel zwischen Europa und der Insel nach dem BREXIT. Nach den LKWs kommen die Caravans. Prächtige Sonne immer noch, aber nur wenige Möwen, obwohl wir dicht am Meer sind.

Mittwoch, 30. April 2025

Hier ticken die Uhren anders.

Zehn vor 5 Uhr rüttelt das Schiff nach ruhiger Fahrt. „Wir sind da“ sage ich. Ein erster Blick aus unserer Kabine zeigt ein vor Anker liegendes kleines Segelboot.

Aber: welche Zeit? Wie spät ist es „wirklich“? Ach, ja richtig, Zeitumstellung!

Die Kinder werden nicht so bequem geschlafen haben wie wir. Vermutlich hatten sie nicht mal Schlafsachen an, haben sich nicht mal umziehen können zur Nacht. Sie werden irgendwo unter Deck gelegen haben, vielleicht die Schuhe aus, mehr ging nicht bei über hundert Kindern. Man kennt solche Nächte, die man leicht fröstelnd unter einer Decke, noch angezogen vom Tage, irgendwie hinter sich bringen muss.

Was mögen die Kinder gedacht haben?
Wir sind nun in einem fremden Land. England. Europa liegt hinter uns. Deutschland ist „weit weg“. „Mama und Papa“ sind nun auch weit weg – über eine Nachtfahrt übers Meer entfernt. Nur unsere Betreuerinnen sind noch da, aber die müssen wieder zurück in Hitlers Deutschland …..

Wir aber gehen zum Frühstück ins große Schiffsrestaurant. Zu unseren Tickets gehörten auch Voucher für ein kleines Frühstück. Wir such uns einen Platz mit Blick nach Osten in den Sonnenaufgang, das Frühstück ist schnell zusammengestellt.

Die Kinder hatten damals kein Frühstück. Sie bekamen einen Tee mit Milch, britischen Tee. Erst mittags gab es das erste Essen, wie sie sich viele Jahre später noch erinnerten.

Wir können beim Frühstück zusehen, wie unter uns die vielen LKWs den Bauch des Schiffes verlassen. Eine große Kolonne setzt sich da in Bewegung, muss noch diverse Zollformalitäten erledigen – viel Aufwand ist das nun, nachdem England den europäischen Wirtschaftsraum verlassen hat und für Europa wieder „Ausland“ geworden ist.

Ich hatte verschiedene Zugverbindungen nach London herausgesucht. Es hätte eine Verbindung mit einem Umstieg in Colchester gegeben, wo ich vor 25 Jahren mal mit Abgeordneten der letzten Volkskammer einen Intensiv-Englischkurs absolviert habe, aber wir entscheiden uns dann doch für den früheren Zug, der uns ohne Umstieg direkt nach London Liverpool Street Station bringen wird. Dort sind auch die Kinder damals angekommen.

Zum Denkmal in Harwich gehen wir nicht mehr.
Wir müssten dazu etwa eine Stunde Fußweg in einer Richtung auf uns nehmen, also mindestens zwei Stunden insgesamt, die Fotos vom Denkmal werde ich im Internet finden. Wir wissen ja, daß die Kinder hier in Harwich angekommen waren und ich bin auch in Verbindung mit Museen[1] in Harwich, die sich um die Geschichte des Ortes und insbesondere die Geschichte der Kindertransporte kümmern.

Wir gehen statt zum Denkmal direkt zum Bahnhof, der Ausstieg ist inzwischen sehr bequem gebaut, man geht von der Fähre direkt zum Bahnhof und zum Bahnsteig nach London hinüber. Der Umstieg ist sehr gemütlich, sogar ein paar Möwen lassen sich blicken.

Beinahe wären wir beim Ausstieg vom Schiff in eine chinesische Reisegruppe geraten, aber wir konnten gerade noch entwischen.

Das alte Bahnhofsgebäude von Harwich, aus dem schon kleine Bäume wachsen, hat wohl auch Susanne schon gesehen, es ist mindestens achtzig Jahre alt.

Wir haben noch ein paar Minuten Zeit, bis unser Zug kommt und schauen uns um. Man kann vom Bahnsteig aus noch unsere Fähre im Hafen liegen sehen, es ist alles dicht beieinander.

Im Zug haben wir gut Platz, sogar ein Fensterplatz ist frei. Ein letzter Blick zurück zum Schiff, dann geht es schnell durch grünes Land Richtung London. Wir kommen von Südosten gefahren, durch Colchester, einem Umsteigepunkt. Der Zug ist sehr pünktlich, sauber, jede noch so kleine Verspätung wird angesagt: „In 30 Sekunden fahren wir weiter….“. Auch hier blüht der Raps und der Ginster strahlt leuchtend neben den Gleisen.
Dann sind wir da: 9.15 an London, Liverpool Street Station.

Der große alte viktorianische Bahnhof aus der Zeit der Dampfloks ist oft beschrieben worden. Julian Borger, der Politikchef von The Guardian, schreibt in seinem Buch „Suche liebevollen Menschen“ über die Ankunft seines Vaters, Bobby Borger 1939 in diesem Bahnhof:
„Der Bahnhof war eine der Kathedralen des englischen Dampfzeitalters. Das hochgewölbte Dach aus Glas und Stahl bedeckte der Ruß aus vielen tausend Lokomotiven, die Heerscharen von Pendlern aus Essex und East Anglia hinaus- und wieder hineinbefördert hatten. Das war das schmutzige, lärmende Tor, durch das mein Vater und die anderen Kinder aus den Inseraten vom Manchester Guardian nach England gelangten. Großbritannien war für viele der Neuankömmlinge nicht die erste Wahl gewesen, aber es bot unmittelbare Sicherheit, Auskommen und Zuflucht, die sich als bemerkenswert zuverlässig erweisen sollten. …. Als Omi und Bobby im Bahnhof Liverpool Street eintrafen, wussten sie, dass sie recht lange getrennt sein würden, wenn auch keiner von ihnen ahnte, dass sie nie wieder wirklich zusammenleben würden. Omi, die Herrin in ihrem eigenen Haus und an der Leitung des Familiengeschäfts beteiligt gewesen war, stand im Begriff, ihre Stelle als Dienstbotin im Haus von Fremden anzutreten, deren Sprache sie nicht beherrschte.[2]

Das war auch Steffies Schicksal. Die anerkannte Grafikerin beim Ullstein-Verlag in Berlin, ehemals verheiratet mit dem Grafiker Albert Schaefer-Ast, die sich ein eigenes Hausmädchen leisten konnte, kam im Juli 1939 auch mit einem Visum als „Dienstbotin“ nach London, eine andere Möglichkeit hatte sie nicht mehr. Als ihre Tochter Susanne am 22. Mai in London ankam, wusste sie noch nicht, ob ihrer Mutter Steffie die Flucht aus Deutschland auch gelingen würde. Als Susanne ankam, war sie von Vater und Mutter getrennt, die Eltern hatten sich gerade vor vier Wochen am 17. April 1939 scheiden lassen. Das Kind dürfte in Einsamkeit und Müdigkeit versunken gewesen sein, die mehr als 24stündige Fahrt, die nun auch hinter uns lag, fordert Tribut.

Als wir nun, 86 Jahre später, beinahe auf den Tag genau, in Liverpool Street ankamen, fanden wir den alten viktorianischen Bahnhof vor allem laut und übervoll. Overground, British Railway, Underground – alle Stationen, Verkehrswege und Richtungen der Metropole kreuzen sich hier, Liverpool Street ist einer der größten Bahnhöfe der vielen Bahnhöfe, über die London verfügt.

1874 wurde Victoria Street eröffnet.
1939 kam Susanne mit über 100 weiteren Kindern hier an. Sie fuhr am nächsten Tag weiter nach Ayr hoch oben in Schottland. Nochmals über 8 Stunden Bahnfahrt lagen vor ihr und der kleineren Gruppe von Kindern, die nach Schottland weiterfuhren.

Wir aber wollten zunächst zum Denkmal.

Es befindet sich vor dem Haupteingang des Bahnhofs. Viele tausende Menschen sehen es täglich. Amy Williams, jene junge britische Historikerin, die 2024 in Yad Vashem die kompletten Transportlisten der Kindertransporte entdeckt hat, schrieb allerdings kürzlich einen ziemlich kritischen Beitrag in ihrem blog über die vielen Passanten, die „sehr achtlos“ an diesem Denkmal vorübergingen, sich „einfach darauf setzen, um ihr Frühstück zu verzehren, ihre Kaffeebecher dort stehen lassen“ etc. Sie war ziemlich empört. Gut aber ist, daß das Denkmal sehr zentral gelegen ist. Wer aufmerksam ist, kann es nicht übersehen und innehalten. Wir haben viele Menschen beobachtet, die genau das taten.

Man sieht: die Kinder verlassen nun „das alte Gleis“.

Neue Wege sind zu gehen. Angebracht sind seitlich Städtenamen von den Orten, aus denen die Flüchtlingskinder kamen.

Wir brauchen nach der Reise dringend eine Pause und setzen und gleich ganz in der Nähe ins „Green King Railway Tavern since 1799“ schräg gegenüber und nehmen einen englischen Tee. Mit Milch, versteht sich. Hektische Betriebsamkeit auf der Straße, wir sind mitten im Zentrum.
City of London. Hektische Business-Man eilen vorüber, blauer Anzug, braune Schuhe, Handy, Rucksack, kleiner Ring am Finger – immer busy busy. Hier wird Geld verdient, Zeit ist kostbar. Die Stadt rennt.

Susanne hatte damals kaum Zeit, sich umzusehen. Sie wurde mit den anderen Kindern nach ihrer Ankunft in Liverpool Street in einen Bus verfrachtet. Der brachte sie nicht etwa zum Essen oder zum Ausruhen, sondern – ins British Museum. Das erste ordentliche Essen für die Kinder gabs erst nach diesem Museums-Pflicht-Besuch. Ob die Kinder überhaupt mitbekommen haben, was da gerade mit ihnen geschah, ist wohl eher zweifelhaft. Die Müdigkeit dürfte gewaltig gewesen sein nach der langen Reise ohne Schlaf.

Uns bleibt diese Strapaze erspart. Wir nehmen die Circle Line bis St. James Park, die fährt alle 10 Minuten, die Oyster-Card hatte ich schon vorab von Deutschland aus besorgt und mir schicken lassen, damit wir keine Schwierigkeiten im Öffentlichen Straßenverkehr hatten. Die Sache mit der Oyster-Card ist sehr praktisch. Man lädt eine Summe auf und hält die Karte dann beim Einsteigen im Bus an ein Lesegerät – fertig. Bei der „Röhre“ (Tube) muss man ja ohnehin noch vor dem Betreten des Bahnsteigs eine Schranke überwinden – das geht nur mit der Card. Abgebucht wird je nach Tageszeit, es gibt teurere Fahrzeiten und günstigere. Ab 10 Uhr am Vormittag fährt man etwas günstiger, dann ist die rush hour vorüber.
Man fährt etwa 20 Minuten von Liverpool Street bis St. James Park. Von der Station St. James Park läuft man nochmal 5 Minuten. Ich hatte uns das Premier Inn gebucht, ein sehr einfaches, dafür aber noch bezahlbares Hotel mitten im Zentrum, zwei Minuten von Westminster Abbey entfernt. Hotels in London sind verflixt teuer, wenn im Stadtzentrum Quartier nehmen will. Am Stadtrand ist es etwas günstiger. Der Stadtteil Westminister war für Steffie wichtig, Susannes Mutter. Hier hat sie gelebt und gearbeitet, ihre Spur wollten wir aufnehmen, deshalb hatte ich das Hotel „mittendrin“ genommen.

Nach einer kleinen Pause machten wir uns dann auf einen ersten Stadtbummel auf den Weg: St. James Park (Downingstreet ist ganz in der Nähe), Westminster, Westminster-Bridge und dann am anderen Ufer weiter, House of Parliament lag schön als Silhouette vor der Abendsonne, an der langen Mauer vom St. Thomas Hospital entlang. Das St. Thomas Hospital gibt es schon seit 1215 und wan wird dort kostenlos behandelt. Florence Nightingale hatte hier eine Schule zur Ausbildung von Krankenpflegern eingerichtet. Die Mauer dieses bemerkenswerten Krankenhauses ist ein Nationales Denkmal an die britischen Opfer von Covid 19. Jedes der roten Herzen steht für einen an Covid gestorbenen Menschen und die Mauer ist sicher einen Kilometer lang:

Spät sind wir ins Hotel gekommen, ziemlich fußmüde, dort gabs noch eine Kleinigkeit als Nachtmahl. Morgen früh werden wir „richtig ankommen“ in der riesigen Metropole mit über 10 Millionen Einwohnern. Wir sind verabredet mit Peter Lobbenberg. Aber erst morgen Nachmittag.


[1] https://kindertransport-memorial.org/

[2] Julian Borger, Suche liebevollen Menschen, Molden Verlag 2024, S. 101 f.

Kindertransporte 1939 (3). Der Bericht von Jakob J. Petuchowski über den Transport vom 21. Mai

Kindertransporte 1939 (3). Der Bericht von Jakob J. Petuchowski über den Transport vom 21. Mai

Susanne Schaefer kam mit dem Kindertransport vom 21. Mai/22. Mai 1939 von Berlin nach London. Sie war 12 Jahre alt. Sie hatte ein Buch dabei: Fridolins Wanderzirkus. Gezeichnet von ihrem Vater Albert Schaefer-Ast. Das Buch findet sich nun im London-Museum, ich habe es für diesen Beitrag als Titelbild verwendet. Mit ihr im Zug saß ein 2 Jahre älterer Junge, Jakob J. Petuchowski. Ich habe seinen Namen auf der Transportliste gefunden, die Amy Williams im Dezember 2024 in Yad Vashem in Jerusalem entdeckt hatte. Sie hatte mir die Liste freundlicherweise für meine Recherchen geschickt. Susanne reiste zusammen mit Jakob am nächsten Tag weiter nach Schottland.

Jakob hat sich an die Reise vom 21. Mai 1938 von Berlin über Hoek van Holland und Harwich nach London erinnert. Sein Bericht ist im Buch „Ich kam allein“, herausgegeben von Rebekka Göpfert1, abgedruckt. Im Folgenden soll er hier wiedergegeben werden, weil wir ihn als „Illustration“ des Transportes benötigen, der Susanne von Berlin nach London und weiter nach Schottland gebracht hat:

„Jakob J. Petuchowski (Cincinatti, USA). Aus Berlin

Was haben das Britische Museum, Bloom’s Kosher Restaurant und Charlie Chaplin gemeinsam? Nur das: daß sie alle dicht gedrängt im Zeitraum von nur ein paar Stunden während jener zwei Tage auftauchten, die mein Leben veränderten – und retteten.
In meinem Besitz befindet sich ein Dokument mit dem Titel „Aliens Order 1920“, ausgestellt am 30. Juli 1941 – an meinem sechzehnten Geburtstag – in East Lothian, in Schottland. Es bestätigt die Tatsache, daß ich am 22. Mai 1939 in Großbritannien eingereist bin, und bemerkt unter „Beruf oder ausgeübte Tätigkeit“: „Landwirtschaftshelfer in Ausbildung“. Ein Foto, das dem Dokument beiliegt, zeigt mich in der Arbeitskleidung eines Landwirtschaftsgehilfen. Mein Gesicht drückt alles andere als Freude aus. Vielleicht bin ich einfach nicht der geborene Landwirtschaftshelfer. Aber als ich am Ende die Landwirtschaftsschule in Schottland verließ, um meine rabbinischen Studien fortzuführen, bemerkte jemand: „Die Bauern werden immer sagen, daß du ein guter Rabbiner bist, und die Rabbiner werden sagen, du bist ein guter Bauer.“ Vielleicht hatte dieser Jemand recht. Jedenfalls trug mein Status als „Landwirtschaftshelfer in Ausbildung“ dazu bei, daß mir an meinem sechzehnten Geburtstag die Internierung erspart blieb.

Aber jetzt von vorn. Wir haben den 22. Mai 1939, den Tag meiner Ankunft in England, und nun kommen das Britische Museum, Bloom’s und Charlie Chaplin ins Spiel. Dieser Tag war auch der Geburtstag meiner lieben Mutter, ihr erster Geburtstag seit meiner Geburt, den ich nicht mit ihr zusammen verbrachte. Noch sollte ich jemals wieder einen ihrer Geburtstage mit ihr zusammen verbringen. Am Tag zuvor, am 21. Mai 1939, hatten wir uns tieftraurig voneinander verabschiedet – auf einem Bahnsteig in Berlin. Dort sah ich sie zum letztenmal. Sie ist ein Teil der „sechs Millionen“ geworden. Zu jener Zeit konnte das natürlich niemand voraussehen, obwohl seit 1933 schon so vieles geschehen war. Es gab die Hoffnung, daß wir uns in England wiedersahen – bald. Für ein Muttersöhnchen wie mich war es schlimm genug, aus seiner vertrauten Umgebung und den liebenden, verwöhnenden Armen der Mutter gerissen zu werden.

Die Eisenbahnfahrt nach Holland verlief ohne Zwischenfälle. Wir bestiegen die Fähre nach Harwich. Nachts überquerten wir den Ärmelkanal, und am nächsten Morgen trank ich an Deck meinen ersten Becher Tee mit Milch. Es schmeckte gar nicht schlecht. Aber aus irgendeinem geheimnisvollen Grund kann ich bis auf den heutigen Tag nur in England Tee mit Milch trinken. Überall sonst auf der Welt will mir dieses absonderliche Gebräu einfach nicht die Kehle hinunter.

Nach der Ankunft in Harwich wurde die gesamte Kinderhorde in einen Zug getrieben, der uns nach London brachte. Dort erwarteten uns Mitglieder des Flüchtlingskomitees und Betreuer, die uns an unsere nächsten Zielorte bringen sollten.

Was soll man in der Hauptstadt des britischen Empire schon anfangen mit Dutzenden von müden, ungewaschenen, hungrigen deutsch-jüdischen Flüchtlingskindern, die über vierundzwanzig Stunden unterwegs gewesen waren? Unser freundliches Empfangskomitee war um eine Antwort auf dieses Problem nicht verlegen: Mit Bussen wurden wir zum Britischen Museum gefahren, wo wir auf einer Führung all seine Schätze bestaunen durften. Allerdings weiß ich, ehrlich gesagt, nicht mehr, was wir sahen. Ich bin nicht einmal sicher, ob es mir gelang, während der ganzen Zeit die Augen offen zu halten. Jedenfalls wurde ich an jenem Tag, dem 22. Mai 1939, erstmals mit den kulturellen Reichtümern Großbritanniens bekannt gemacht. Im nachhinein erscheint es mir durchaus sinnvoll, daß man die Kultur damals vor das Essen an die erste Stelle setzte – obwohl wir Kinder gänzlich anders darüber gedacht haben dürften.

Schließlich durften wir die Busse wieder besteigen, und man brachte uns zu Bloom’s Kosher Restaurant, wo wir unsere erste richtige Mahlzeit nach dem Verlassen Deutschlands einnahmen. Ich erinnere mich nicht mehr, was es gab. Das wichtigste war, daß ich meinen Hunger stillen konnte; dafür waren auch alle anderen dankbar.

Ich erfuhr, daß ich nicht in London bleiben sollte. Mein Bestimmungsort war die Whittingehame Farm School in Schottland. Aber es war noch eine lange Zeit zu überbrücken, bis wir den Nachtzug nach Edinburgh besteigen konnten. Wir gingen also ins Kino und sahen Charlie Chaplin im „Großen Diktator“. Ein Jahr Englischunterricht an einer Berliner Jüdischen Schule reichte gewiß nicht aus, um den Dialog mit all seinen Raffinessen zu verstehen, aber Chaplins Schauspielkunst entschädigte mich vollauf für alles, was ich sprachlich nicht mitbekam. Und was es allein schon bedeutete, daß wir dreißig Stunden nach unserer glücklichen Flucht aus Nazi-Deutschland sehen konnten, wie man sich über den Führer lustig machte! Und daß wir ungestraft lachen konnten über das, was hinter uns lag! Jetzt hatten wir endgültig die Gewißheit, daß wir in einem freien Land angekommen waren, und wir atmeten auf.

Während der Eisenbahnfahrt nach Edinburgh in dieser Nacht fanden viele von uns Kindern keinen Schlaf. Die vielen neuen Eindrücke der letzten Stunden, ganz zu schweigen von den köstlichen koscheren Würsten bei Bloom’s – all das mußte schließlich verdaut werden; und die Zukunft war ungewiß. Am 23. Mai 1939 kamen wir pünktlich in Edinburgh an. Das Datum war in diesem Jahr der Vorabend des Wochenfestes, Schawout2. An der Whittingehame Farm School blieben jene, die es wollten, traditionsgemäß die ganze Nacht wach, um miteinander Abschnitte aus der Thora und andere Bibelschriften und rabbinische Texte zu lesen. Das Jahr, in dem ich Bar Mizwa hatte, war noch nicht vollendet, und ich war naturgemäß begierig darauf, als ein erwachsener Jude an diesem nächtlichen Gemeinschaftsstudium teilzunehmen. Wir hatten kaum das zweite der fünf Bücher Mosis beendet, – da überwältigte mich schließlich der Schlaf.

Seither bin ich oft im Britischen Museum gewesen; 1978 saß ich in der berühmten Bibliothek, um zu forschen. Ich habe viele köstliche Mahlzeiten bei Bloom’s verzehrt, und auch den „Großen Diktator“ habe ich später wiedergesehen. Aber die Wiederholungen reichen nicht an das heran, was alle drei Elrebnisse zusammen an jenem 22. Mai 1939 für mich bedeuteten. Damals standen sie für die Freiheit. Wenn ich heute daran zurückdenke, empfinde ich tiefe Dankbarkeit für jene, die mein Leben retteten.“

Soweit seine Erinnerung. Als wir am 30. April 2025 von Harwich kommend, auf den Spuren der Flüchtlingskinder in London ankamen, hatten wir ein etwas anderes Programm als die Kinder damals. Davon mehr im nächsten Beitrag.

  1. dtv Frankfurt 1994, Seite 66-69 ↩︎
  2. die mittlere von drei großen Ernte- und Wallfahrtsfeiern des Jahres, die zur Erinnerung an die Offenbarung am Berg Sinai im Mai oder im Juni stattfindet. ↩︎